Maria Moog-Grünewald ist Literaturwissenschaftlerin mit Lehrstuhl für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen seit 1992
Vorlesung im Rahmen des ‚Studium generale‘
Mi 18 h c.t.
Kupferbau, Hörsaal 22
Vollkommenheit – so F. Mauthner (um 1910) – ist ein Begriff, der nur mehr eine „Wortleiche“ sei, die „nicht mehr totgeschlagen werden müsse“. Noch vor den großen ideologischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts herrscht (auch) Skepsis gegenüber jeglichem Fortschrittsglauben – und Aldous Huxley hat sich 1932 die Frage gestellt, wie man die Verwirklichung von Vollkommenheitsträumen verhindern könne. Zusätzliche Brisanz erhalten weltanschauliche, gar gesellschaftspolitische Vollkommenheitsphantasien durch biologistische und gentechnische Ambitionen. Das Streben nach Vollkommenheit, gar Vervollkommnung ist in der sog. Moderne mehr denn suspekt (geworden). Das liegt allerdings weniger am Ideal selbst, als an seiner Materialisierung, allgemeiner: Säkularisierung. Auch anders: Sobald das Ideal seiner metaphysisch-ontologischen Prämissen verlustig gegangen ist, ist der Schaden groß – auch dort, wo er nicht intendiert ist.
Die Vorlesung setzt es sich zum Ziel, Vollkommenheit in seinen differenten Facetten zu diskutieren: von der frühen griechischen Antike – hier sind vor allem Platon und Aristoteles zu nennen – über die Spätantike (Plotin, Proklos) und die Patristen, das christliche Mittelalter bis in die Epoche der Renaissance, in der der Begriff der Vollkommenheit nicht nur für eine neue Anthropologie, vielmehr zugleich für die Ästhetik, die Kunst und die Literatur in Anspruch genommen wird, um dann im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung, sowohl im politischen und gesellschaftlichen wie ästhetischen Bereich mit erheblichem Perfektibilitätspathos präkonisiert zu werden. Die Romantiker sodann – insbesondere in Deutschland – arrogieren Vollkommenheit im Unendlichen nicht allein für die Kunst und die Dichtung, vielmehr kommt Kunst und Dichtung die Aufgabe der universellen Vervollkommnung zu. – Am Beispiel von Dantes Commedia und Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ sollen – auch mit Blick auf die in diesen Werken präsente Kunst – die Differenzen zwischen Vormoderne (näherhin ausgehendem Mittelalter) und Moderne in der ethischen bzw. ästhetischen Reflexion auf Vollkommenheit deutlich werden.
Im ganzen wird an Begriff und Sache der Vollkommenheit eine Kulturgeschichte eigener Art entfaltet; sie umfaßt etwa zweieinhalb bis drei Jahrtausende und bezieht Theologie, Philosophie, Ästhetik, Literatur und Kunst und schließlich – à part – gegenwärtige Vorstellungen vom ‚schönen neuen Menschen‘ mit ein – kurz eine Standortbestimmung in historischer Perspektive.
Die Vorlesung Über Vollkommenheit versteht sich auch als ein Komplement zur Vorlesung über Unendlichkeit im Wintersemester 2013/2014. Deren Kenntnis ist aber keineswegs Voraussetzung.
21.10.2015: Vervollkommnung ins Unendliche‘: Anmerkungen zur Ästhetik der (Früh)Romantik
28.10.2015: Metaphysik und Ethik der Vollkommenheit: Platon, Aristoteles
04.11.2015: Die Vollkommenheit Gottes: die Patristen (Gregor von Nyssa) und das christliche Mittelalter
11.11.2015: Harmonie und Proportion: die vollkommene Zahl in Musik und Architektur
25.11.2015: Dantes Commedia – ein vollkommenes Werk (I)
02.12.2015: Dantes Commedia – ein vollkommenes Werk (II)
09.12.2015: Dignitas hominis: ein Konzept der Selbstvervollkommnung in der Renaissance (mit einem Ausblick auf das Perfektibilitätstheorem im 18. Jahrhundert)
16.12.2015: „Formar con parole il perfetto cortegiano“: Zum Verhältnis von Dialog und Vollkommenheit in Baldassare Castigliones Buch vom Hofmann
13.01.2016: Die Ambivalenz der Vollkommenheit: Utopie und Totalitarismus in der Frühen Neuzeit (mit einem Ausblick auf das 20. Jahrhundert)
20.01.2016: Schönheit und Vollkommenheit in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts
27.01.2016: Die Vollkommenheit des Unvollkommenen: Marcel Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ (I)
03.02.2016: Die Vollkommenheit des Unvollkommenen: Marcel Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ (II)